Interview: Europäische Idee verspielt

Paderborn (up). Am 29. März tritt Großbritannien (GB) – voraussichtlich – aus der Europäischen Union aus. Bislang gibt es dafür allerdings noch keine konkrete Regelung. Das von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen ist vom britischen Parlament mehrheitlich abgelehnt worden. Was bedeutet das für GB und die EU? Prof. Dr. Dieter Krimphove, Experte für Wirtschaftsrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, spricht im Interview über mögliche Konsequenzen des Austritts, eine generell europafeindliche Stimmung und die Lage in Irland.

Herr Krimphove, Theresa May lehnt ein zweites Referendum ab. Sie schließt auch weiterhin nicht aus, dass Großbritannien die EU ganz ohne Abkommen verlässt. Was halten Sie von den Anträgen der Opposition und einiger EU-freundlicher Tories, mit der EU nachzuverhandeln und eine Fristverlängerung für den Austritt zu erreichen? Macht aus Ihrer Sicht ein neues Referendum überhaupt Sinn und was denken Sie, wie das ausgehen würde?

Krimphove: Man muss akzeptieren, dass für Nachverhandlungen kein Raum mehr ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Austrittsverhandlungen gemäß dem AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) bislang bereits zwei Jahre gedauert haben. Innerhalb dieses Verfahrens waren sicherlich sowohl seitens der Europäischen Kommission als auch Großbritanniens taktische Verzögerungen zu verzeichnen. Ich erinnere nur an die Frage, ob ein „gemeinsames Zollabkommen" gleichzeitig oder erst nach dem Austrittsvertrag verhandelt werden soll. Die Verhandlungen, die Michel Barnier sehr umsichtig und sorgfältig geleitet hat, spiegeln den derzeitigen Stand der Vermittlung europäischer wie britischer Interessen wider. Auch hier besteht meines Erachtens kein weiterer Verhandlungsspielraum. Nicht unterschätzt werden darf, dass Frau May offensichtlich über keinerlei demokratische Mehrheit in Großbritannien verfügt. Hier fragt sich die Europäische Union zu Recht, mit welchem politischen Mandat Frau May heute noch auftritt.

Aktuell pumpen viele Unternehmen ihre Lager in GB bis unter die Decke mit Waren voll. Wie beurteilen Sie das?

Krimphove: Ich möchte an erster Stelle – entgegen der Pressemeldungen der vergangenen Tage und Wochen – meine Vermutung ausdrücken, dass durch den BREXIT die Welt nicht untergeht. Auch nicht die Europäische Wirtschaft. Man darf nicht vergessen, dass Großbritannien bereits vor dem Wechsel zahlreiche europäische Normen, insbesondere Richtlinien, entgegen seiner europäischen Verpflichtungen, nicht in britisches Recht umgesetzt hat. Die politische Stimmung in Großbritannien ist nicht erst seit zwei Jahren, sondern meines Erachtens bereits seit 17 Jahren überaus europafeindlich.

Wenn wir ehrlich sind, entspricht der britische Austritt aus der Europäischen Union einem demokratischen Akt. Es ist daher nicht zu verstehen, warum einige politische Vertreter  – insbesondere des europäischen Parlaments und der Kommission – diesen Akt als „Fehler" brandmarken. Wenn ein Mitgliedstaat der Überzeugung ist, nicht mehr in einer supranationalen Gemeinschaft mitzuwirken, muss es sein demokratisches Recht sein, dies zum Ausdruck zu bringen und auszutreten. Es fragt sich allerdings, ob die Vorgehensweise, wie dieser Austritt derzeit vollzogen wird, noch als geordnetes Verfahren bezeichnet werden kann. Meines Erachtens liegt hier ein Demokratiedefizit des britischen Regierungssystems vor.

Interessant ist, dass die Wirtschaft offensichtlich das gegenwärtige Austrittsgeschehen recht gut verkraftet: Die letzten Entwicklungen an der Börse zeigen kaum nennenswerte Reaktionen auf den BREXIT. Im Gegenteil: Viele britische Unternehmen versuchen derzeit, sich mit Tochtergesellschaften und Agenturen in der Europäischen Union selbst niederzulassen, um den Folgen des BREXITS zu entgehen. Hierzu nutzen sie die ihnen durch den AEUV gewährte europäische Niederlassungsfreiheit. Man kann nun dieses Geschehen im Vorfeld eines „harten BREXITS" ebenfalls als wirtschaftliche Stimulanz, nicht der britischen, aber der europäischen Wirtschaft verstehen.

Ich möchte außerdem auf die bislang nicht erörterte Möglichkeit hinweisen, dass Großbritannien durchaus auch in einem „harten BREXIT" aus der Europäischen Union ausscheiden kann. Nach einer Periode, in der Großbritannien sich der Folgen dieses Austritts bewusstgeworden ist, bleibt immer noch die Möglichkeit, einen (Wieder-)Aufnahmeantrag zu stellen. Nicht zu unterschätzen bleibt die von der Europäischen Kommission besonders hoch eingeschätzte Gefahr, dass durch den BREXIT andere Mitgliedstaaten, insbesondere die in der Osterweiterung der EU hinzugekommenen, ebenfalls geneigt sein können, ihren Austritt zu erklären. Offensichtlich hat die Europäische Union die „Europäische Idee" verspielt. Hier bleibt ihr jedenfalls nichts anderes, als ihre politische, kulturelle und rechtliche Attraktivität für alle Mitgliedstaaten konsequent zu erhöhen.

Was bedeutet die Situation für Irland und Nordirland? Gerade hat es wieder einen Bombenanschlag gegeben, der einer Splittergruppe der IRA zugeschrieben wird.

Die Situation Nordirlands bzw. Irlands lässt sich weniger europarechtlich als völkerrechtlich beurteilen. Sie ist unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten sehr brisant, da nun – und dies deutet Ihre Frage an – mit dem Ausscheiden Nordirlands aus dem britischen Hoheitsgebiet gespielt wird. Diese Form der völkerrechtlichen „Dismembration" ist insbesondere in einem kulturellen „Gesamtraum" oder einer Staatengemeinschaft, die noch in der Europäischen Union besteht, durchaus selten. Es gibt schon heute den Spruch, dass Nordirland der Preis für den BREXIT sei. Ich teile Ihre Befürchtung, dass das Spiel mit diesem Gedanken separatistische und gewaltbereite Gruppen zu terroristischen Anlässen motiviert. Insofern muss auch hier die Situation sachlich eingeschätzt und die Diskussion fachlich und weniger emotional geführt werden.

Wie wahrscheinlich ist die Vision von einem geordneten Austritt Großbritanniens aus der EU noch?

Aus meiner Sicht bestehen nur geringe Chancen eines geordneten Ausstiegs Großbritanniens, zumindest in dem vorgesehenen Zeitraum. Europarechtlich möglich bleibt allerdings eine ständige Verschiebung des BREXITS, vor allem um dann die Möglichkeit eines neuen Referendums ins Spiel zu bringen. Ob dies allerdings dem politischen Willen der britischen Regierung und insbesondere dem des britischen Volkes entspricht, wage ich zu bezweifeln.

Was bedeutet der BREXIT für die Wissenschaft und für internationale Studierende?

Auch in diesem Zusammenhang darf man die Konsequenzen nicht überschätzen. Es trifft zu, dass der Austrittsvertrag entsprechende Schutzregeln für Studierende bzw. Studienplatzwechsler vorsah. Kommt es zu einem harten BREXIT, entfallen selbstverständlich diese Schutzanforderungen für studienortwechselnde Studierende. Zu bedenken ist allerdings, dass Studierende, die bislang die Erasmuskontakte nutzen konnten, durchaus aufgefangen werden können von dem ebenfalls existierenden Programm Erasmus Mundus.

Eine andere Frage ist der Studienplatzwechsel außerhalb eines Erasmus-Programms. Hier sind bei einem Brexit die britischen Hochschulen aufgefordert, ihre eigenen (außereuropäischen) Standards zu setzen, um etwa Studierende aus der Europäischen Union an ihren Universitäten zuzulassen. Umgekehrt gilt auch der Fall, dass britische Studierende, die an einer deutschen Hochschule ihr Studium aufnehmen möchten, nun eigens nachweisen müssen, dass sie den europäischen/deutschen Studienanforderungen genügen.

Sicherlich wird sich das gesamte wirtschaftliche, kulturelle, rechtliche und politische Umfeld durch den BREXIT ändern. Für die Hochschullandschaft bedeutet das aber auch, dass sich neue, interessante Forschungsgebiete auftun.

Die Fragen stellte Nina Reckendorf, Stabsstelle Presse und Kommunikation.

Zurück
Interview: Europäische Idee verspielt
Prof. Dr. Dieter Krimphove ist Experte für Wirtschaftsrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Paderborn. Foto: Universität Paderborn